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Abhängigkeitssyndrome / Sucht

 

(Drogen, Alkoholismus, Medikamentenmissbrauch, Cannabis, Kokain, Heroin)

Rechtsprechung und Praxis in chronologischer Reihenfolge

Keine Erwerbsunfähigkeit bei leicht- bis mittelgradiger depressiven Störung

Urteil 8C_53/2022 vom 05.07.2022 E. 4.2 (Volltext)

 

Eine leicht- bis mittelgradige depressive Störung ohne nennenswerte Interferenzen durch psychiatrische Komorbiditäten lässt sich im Allgemeinen nicht als schwere psychische Krankheit definieren (E. 4.1.2).

 

Die medizinischen Sachverständigen zeigten hier nachvollziehbar auf, weshalb die höchstens noch leichte Depression keine funktionellen Leistungseinschränkungen mit sich bringt, die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken (BGE 143 V 409 E. 4.5.2). Die Beschwerden erreichen damit jedenfalls kein Ausmass mehr, das einen weiteren Invalidenrentenanspruch begründen würde, wie sich aus dem Gutachten der Gutachterstelle B. schlüssig ergibt (E. 4.1.3).

 

Strukturiertes Beweisverfahren ist entbehrlich (E. 4.2)

Sucht-Rechtsprechung ist kein Neuanmeldungs- bzw. Revisionsgrund

Urteil 9C_132/2020 (BGE 147 V 234) vom 07.06.2021 (Volltext)

 

Die neue Rechtsprechung zu den Abhängigkeitssyndromen bildet keinen Neuanmeldungs- bzw. Revisionsgrund.

 

IV-Rundschreiben Nr. 395 vom 28.11.2019, Aktualierung per 01.07.2021

Abhängigkeitssyndrome und Umgang mit Entzugsbehandlungen 

IV-Rundschreiben Nr. 395 vom 28.11.2019 (Volltext) / Aktualisiert per 01.07.2021 (Volltext)


Mit BGE 145 V 215 vom 11. Juli 2019 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur Beurteilung des Anspruchs auf Leistungen der Invalidenversicherung bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms geändert.

  • Fachärztlich einwandfrei diagnostizierte Abhängigkeitssyndrome sind grundsätzlich als invalidenversicherungsrechtlich beachtliche (psychische) Gesundheitsschäden zu beachten.

Deshalb ist künftig wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen anhand eines strukturierten Beweisverfahrens abzuklären, ob sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt. 

 

Diese neue Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht rechtkräftig erledigten Fälle anzuwenden (vgl. etwa Urteil des BGer 8C_259/2019 vom 14. Oktober 2019, Erw. 5.1).

 

Hingegen bildet die neue Rechtsprechung per se keinen Grund für ein Zurückkommen auf rechtskräftig entschiedene Fälle, weder unter dem Titel der Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG noch unter dem Titel der Anpassung an eine geänderte Gerichtspraxis (vgl. BGE 135 V 201 vom 26. März 2009).

 

Auf eine allfällige Neuanmeldung kann sodann nur eingetreten werden, wenn die versicherte Person eine anspruchsrelevante Änderung des Gesundheitszustandes oder des Sachverhalts glaubhaft machen kann (Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV, Art. 17 ATSG, Rz 5012 ff. KSIH). 

 

Mit Urteil 9C_309/2019 vom 7. November 2019 hat das Bundesgericht seine neue Rechtsprechung zu den Abhängigkeitssyndromen weiter präzisiert. Die Anordnung einer Entzugsbehandlung im Hinblick auf eine medizinische Begutachtung unter dem Titel der Mitwirkungspflicht im Abklärungsverfahren ist nicht länger statthaft (vgl. Erw. 4.2.2). Die versicherten Personen dürfen daher im Vorfeld zu einer Begutachtung nicht gezwungen werden sich einer Entzugsbehandlung zu unterziehen. Rz 1052 KSIH hat daher ab sofort keine Gültigkeit mehr und wird im Rahmen der nächsten Kreisschreibenanpassung gestrichen. 

 

Laufende Auflagen im Abklärungsverfahren, welche als Voraussetzung für die Begutachtung ausgesprochen wurden, sind nicht weiter zu verfolgen und es ist demnach anhand eines strukturierten Beweisverfahrens die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu ermitteln. 

 

Hingegen kann eine zumutbare Entzugsbehandlung oder andere Therapieauflage als Behandlungsmassnahme weiterhin jederzeit als Schadenminderung auferlegt werden. Ob die versicherte Person ihrer Schadenminderung nachgekommen ist und ob die Behandlung erfolgreich war, ist durch die IV-Stelle zu gegebener Zeit revisionsweise zu prüfen und kann zu einer Kürzung oder Verweigerung von Leistungen führen. 

Invaliditätsfremde Gründe / Schadenminderungspflicht

Urteil 8C_259/2019 vom 14.10.2019 E. 4 (Volltext): Invaliditätsfremde Gründe

 

Dabei kann und muss im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden.

 

Diesem komme nicht zuletzt deshalb Bedeutung zu, weil bei Abhängigkeitserkrankungen - wie auch bei anderen psychischen Störungen - oft eine Gemengelage aus krankheitswertiger Störung sowie psychosozialen und soziokulturellen Faktoren vorliege. Letztere seien auch bei Abhängigkeitserkrankungen auszuklammern, wenn sie direkt negative funktionelle Folgen zeitigen würden.

 

Auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms kommt die Schadenminderungspflicht (Art. 7 IVG) zur Anwendung, so dass von der versicherten Person etwa die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden könne (Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG). Komme sie den ihr auferlegten Schadenminderungspflichten nicht nach, sondern erhalte willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, sei nach Art. 7b Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 21 Abs. 4 ATSG eine Verweigerung oder Kürzung der Leistungen möglich. 

Invalidisierender Gesundheitsschaden kommt in Frage

Urteil 9C_334/2019 vom 06.09.2019 E. 5.2 (Volltext)

 

Eine primäre Abhängigkeit von psychotropen Substanzen kommt grundsätzlich als invalidisierender Gesundheitsschaden in Frage; dessen Auswirkungen sind nach dem strukturierten Beweisverfahren zu beurteilen sind. 

Invalidenversicherungsrechtliche Relevanz von Abhängigkeitssyndromen

Urteil 9C_724/2018 (BGE 145 V 215) vom 11.07.2019 (Volltext) 

 

Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 6 bis 8 ATSG; Art. 28 Abs. 1 IVG; invalidenversicherungsrechtliche Relevanz von Abhängigkeitssyndromen (psychische Störungen durch psychotrope Substanzen).

 

Primäre Abhängigkeitssyndrome sind - wie sämtliche psychischen Erkrankungen - grundsätzlich einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen (E. 5 und 6.2; Änderung der Rechtsprechung).

 

7. Zusammengefasst bestehen angesichts der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung und nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Medizin hinreichend gewichtige Gründe, die bisherige Rechtsprechung, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen zum vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können, und ihre funktionellen Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen, fallen zu lassen. Fortan ist - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirkt. 

 

8.2. Die Existenz möglicher und zumutbarer Therapieoptionen ist jedoch mit Blick auf die Schadenminderungspflicht (Art. 7 und 7b Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 21 Abs. 4 ATSG) von Bedeutung. Die Verwaltung hat denn auch den Versicherten mit Schreiben vom 22. November 2017 dazu angehalten, die therapeutische Begleitung weiterzuführen und die Benzodiazepine abzudosieren (Sachverhalt lit. A hiervor). Ob ein Behandlungserfolg eintritt, kann indes im Einzelfall erst nach Abschluss der entsprechenden Behandlung beurteilt werden (vgl. Urteil 8C_663/2017 vom 12. Dezember 2017 E. 5.1). Folglich wird der Leistungsanspruch durch die IV-Stelle zu gegebener Zeit revisionsweise zu überprüfen sein (Art. 57 Abs. 1 lit. c IVG i.V.m. Art. 17 Abs. 1 und Art. 43 Abs. 1 ATSG). 

Kormorbidität mit Alkoholeinfluss führt zu einer Arbeitsunfähigkeit von 50 %

Urteil 9C_899/2017 vom 09.05.2018 (Volltext)

 

4. Der psychiatrische Gutachter diagnostizierte eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F45.41), welche die Arbeitsfähigkeit auf 50 % reduziere. Zudem stellte der Experte folgende Diagnosen ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode (ICD-10 F33.00), Alkoholabhängigkeitssyndrom (ICD-10 F10.24) gegenwärtiger Substanzmissbrauch. ...

 

3.2.3. Der psychiatrische Gutachter stellte fest, die chronische Alkoholerkrankung sowie die wiederholten depressiven Schübe wirkten verstärkend. Im Weiteren erwähnte der Experte, dass daneben auch somatische Beschwerden in Form von Rücken- und Knieschmerzen vorliegen würden, welche durch die psychischen Prozesse sowie die Schonhaltung und Selbstlimitierung intensiviert und potenziert würden. Dem Alkoholabhängigkeitssyndrom und der rezidivierenden depressiven Störung kann folglich nicht jegliche ressourcenhemmende Wirkung abgesprochen werden (BGE 143 V 418 E. 8.1 S. 430).