Prozessuale Revision
Inhalt
Grundsätze in systematischer Reihenfolge der Bearbeitungsschritte
- Neue Tatsachen und Beweismittel
- Wenn Revisionsgrund materielle Anspruchsvoraussetzung betrifft
- Revisionsfrist
Beispiele in chronologischer Reihenfolge
- Unterlassene medizinische Abklärung
- Rückwirkende Zusprechung einer Invalidenrente mit bestehenden Ergänzungsleistungen
- Nachträglich festgestellter organischer Befund
- Verheimlichte Beweismittel aus dem Strafverfahren
- Unrichtige Würdigung
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- Die Applikation prüft, ob im IVG, UVG oder BVG Umstände vorliegen, um eine bestehende Invaliden- oder Hinterlassenenrente in irgend einer Form zu korrigieren.
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Gesetzliche Bestimmung
Prozessuale Revision
Art. 53 Abs. 1 ATSG (KSIR, Rz. 6200 ff.)
Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war.
Grundsätze in systematischer Reihenfolge der Bearbeitungsschritte
Neue Tatsachen und Beweismittel
Urteil 8C_148/2018 vom 06.07.2018 E. 5 (Volltext)
Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen nach Art. 53 Abs. 1 ATSG in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war.
Neu sind demnach Tatsachen,
- die sich vor Erlass der formell rechtskräftigen Verfügung oder des Einspracheentscheides verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren.
Die neuen Tatsachen müssen erheblich sein,
- d.h. sie müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage des zur Revision beantragten Entscheids zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer anderen Entscheidung zu führen.
Neue Beweismittel haben entweder
- dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen
oder
- dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind (vgl. BGE 134 III 669 E. 2.1 S. 670; 127 V 353 E. 5b S. 358; Urteil 8C_434/2011 vom 8. Dezember 2011 E. 7.1, in: SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63).
Damit ein neues Beweismittel einen Revisionsgrund bilden könnte,
- müsste es den Fehler in der früheren Beweisgrundlage eindeutig aufzeigen (vgl. Urteil 8C_683/2015 vom 29. Oktober 2015 E. 4 mit Hinweis).
Nur auf diesem Weg ist zu vermeiden, "dass immer wieder neue Beweismittel produziert werden, um eine Revision in Gang zu bringen", wie sich der Gesetzgeber bei den Beratungen zu Art. 53 Abs. 1 ATSG äusserte (Bericht der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999 [BBl 1999 4523, 4614, zitiert in: SVR 2010 UV Nr. 22 S. 90, 8C_720/2009 E. 5.2 in fine]).
Wenn Revisionsgrund materielle Anspruchsvoraussetzung betrifft
Urteil 8C_148/2018 vom 06.07.2018 E. 5 (Volltext): Schätzung / Beweiswürdigung
Betrifft der Revisionsgrund eine materielle Anspruchsvoraussetzung, deren Beurteilung massgeblich auf Schätzung oder Beweiswürdigung beruht, auf Elementen also, die notwendigerweise Ermessenszüge aufweisen,
- so ist eine vorgebrachte neue Tatsache als solche in der Regel nicht erheblich.
Ein (prozessrechtlicher) Revisionsgrund fällt demnach überhaupt nur in Betracht, wenn bereits im ursprünglichen Verfahren der untersuchende Arzt und die entscheidende Behörde das Ermessen wegen eines neu erhobenen Befundes zwingend anders hätten ausüben und infolgedessen zu einem anderen Ergebnis hätten gelangen müssen. An diesem prozessualrevisionsrechtlich verlangten Erfordernis fehlt es, wenn sich das Neue im Wesentlichen in (differenzial-) diagnostischen Überlegungen erschöpft, also auf der Ebene der medizinischen Beurteilung anzusiedeln ist (Urteile 8C_170/2017 vom 13. Oktober 2017 E. 7.2 und 8C_464/2016 vom 27. September 2016 E. 6.1 mit Hinweis).
Neue medizinische Expertisen,
- die im Verfahren, das zur früheren Verfügung geführt hat, keine gravierende und unvertretbare Fehldiagnose feststellen, erfüllen das Kriterium der Erheblichkeit nicht.
Aufgrund der Symptome lassen sich Krankheiten oft nicht klar voneinander abgrenzen. Es wäre nicht sinnvoll, wenn jede im Nachhinein korrigierte Diagnose eine Revision begründen könnte, zumal der erhobene Krankheitsbefund nicht grundlegend für das Mass der Arbeits (un) fähigkeit und damit die Beurteilung des Invaliditätsgrades ist (Urteil 8C_170/2017 vom 13. Oktober 2017 E. 7.3).
Revisionsfrist
BGE 143 V 105 vom 15.03.2017 (Volltext): Fristbeginn
Art. 53 Abs. 1 ATSG; Art. 67 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 55 Abs. 1 ATSG.
Beginn der 90-tägigen Frist für die Geltendmachung des prozessualen Revisionsgrundes: Zeitpunkt der fristauslösenden Kenntnis vom Revisionsgrund (E. 2-2.4).
Urteil 8C_434/2011 vom 08.12.2011 (Volltext): Observationsbericht
Liegt sichere Kenntnis über neue erhebliche Tatsache oder das entscheidende Beweismittel vor, beginnt die relative 90-tätige Revisionsfrist zu laufen (E. 3).
Ein Observationsbericht ist kein entscheidendes Beweismittel: Er kann höchstens Anhaltspunkte liefern oder Anlass zu Vermutungen geben. Die 90-tätige Revisionsfrist beginnt erst mit Vorliegen der ärztlichen Beurteilung (E. 4.1 und 4.2).
Beispiele in chronologischer Reihenfolge
Unterlassene medizinische Abklärung
Urteil 8C_148/2018 vom 06.07.2018 E. 5.5.1 (Volltext): Keine Revision
Die versicherte Person erblickt in der vor dem 14. Juli 2005 unterlassenen Abklärung der psychischen Auswirkungen eine Verletzung der Untersuchungspflicht, weshalb die durch das bidisziplinäre Gutachten vom 3. März 2015 gewonnene neue Erkenntnis einer organischen Persönlichkeitsstörung mit ihren erheblichen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit einen (prozessualen) Revisionsgrund darstelle. Entgegen der Vorinstanz sei nicht von einer bloss anderen medizinischen Beurteilung auszugehen.
Dieser Beurteilung der versicherten Person kann nicht gefolgt werden.
Rückwirkende Zusprechung einer Invalidenrente bei bestehenden Ergänzungsleistungen
Urteil 9C_341/2017 vom 27.09.2017 E. 4.1 (Volltext): Revision möglich
Die rückwirkende Zusprechung einer ganzen Rente der Invalidenversicherung ab 1. Mai 2007 an die Ehefrau stellt somit einen prozessualen Revisionsgrund nach Art. 53 Abs. 1 ATSG dar, der Anlass für die Neuberechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen und allenfalls auf kantonale Beihilfe ab diesem Zeitpunkt (bis 30. Juni 2011) gibt (BGE 122 V 134 E. 2d S. 138). Aus der Neuberechnung des Anspruchs kann sich eine Rückforderung von zu viel ausgerichteten Leistungen oder eine Nachzahlung ergeben (BGE 138 V 298).
Nachträglich festgestellter organischer Befund
Urteil 8C_474/2016 vom 23.01.2017 (Volltext): Revision möglich
Ursprüngliche Einstellung der Leistungen infolge fehlender Adäquanz. Späterer Nachweis einer organischen Hirnverletzung rechtfertigt eine prozessuale Revision.
Verheimlichte Beweismittel aus dem Strafverfahren
Urteil 8C_955/2011 vom 09.07.2012 E. 3 (Volltext): Revision möglich > Rente aufgehoben
Wird eine rentenausschliessende Erwerbstätigkeit verheimlicht, kann die Rente rückwirkend aufgehoben werden.
Das Sicherstellen verschiedener Beweismittel im Strafverfahren, welche eine erhebliche Erwerbstätigkeit des Versicherten während des Zeitraums des Rentenbezuges belegen, stellt ein nachträgliches Auffinden erheblicher Beweismittel dar, deren Beibringung der IV-Stelle zuvor nicht möglich gewesen ist. Somit ist jedenfalls der Rückkommensgrund von Art. 53 Abs. 1 ATSG (sog. prozessuale Revision) gegeben.
Unrichtige Würdigung
Urteil 8C_968/2010 vom 09.02.2011 E. 2.2 (Volltext): Keine Revision
Einen Beweis für diese These lieferten auch die neu vorgenommenen Tests nicht. Selbst wenn die im ursprünglichen Verfahren bekannten Tatsachen unrichtig gewürdigt worden wären, läge noch kein Revisionsgrund vor. Notwendig ist vielmehr, dass die unrichtige Würdigung erfolgte, weil für den Entscheid wesentliche Tatsachen nicht bekannt waren oder unbewiesen blieben (vgl. SVR 2010 UV Nr. 22 S. 90, 8C_720/2009 E. 5.2 mit Hinweisen).