Erwerbsunfähigkeit
Inhalt
Vorgehen bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit
- Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit und strukturiertes Beweisverfahren
- Nicht Diagnose und Schwere Erkrankung sind entscheidend, sondern Auswirkung auf Arbeitsunfähigkeit
- Feststellung einer Erwerbsunfähigkeit durch das strukturiertes Beweisverfahren
Durch die Rechtsprechung beurteilte Diagnosen
Invaliditätsfremde Gründe ohne Einfluss auf die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit
- Invaliditätsfremde Gründen rechtfertigen keine Arbeitsunfähigkeit
- Psychosoziale und soziokulturelle Umstände im Kontext mit dem struturierten Beweisverfahren
- Psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren
- Psychosoziale Belastungsfaktoren ohne Erwerbsunfähigkeit
Aggravation als invaliditätsfremder Grund im Speziellen in chronologischer Reihenfolge
- Aggravation infolge Inkonsistenzen bei Begutachtung und negativem Medikamentenscreening
- Abgrenzung zwischen Verdeutlichung und Aggravation; keine Indikatorenprüfung bei Aggravation
- Definition und bewusst gesteuerte Aggravation ohne Erwerbsunfähigkeit
- Begutachtungsbestandteile, die zur Annahme von Aggravation führen können
- Vertiefte Prüfung des funktionellen Schweregrades im Kontext der Aggravation
- Kriterien der Aggravation
Wechselwirkung von invaliditätsfremden Gründen und Gesundheitsschäden
- Wechselwirkung in der Praxis mit einer resultierenden Arbeitsunfähigkeit von 100 %
- Eigenständige Gesundheitsschäden: Abgrenzung von psychischer Belastung und Invalidität
- Leitsatz zur massgebenden Ursache für die Arbeitsunfähigkeit
- Depressive Störung ohne invalidisierenden Gesundheitsschaden
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Gesetzliche Bestimmung
Erwerbsunfähigkeit
Art. 7 ATSG (KSIR)
1 Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt.
2 Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.
Vorgehen bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit
Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit und strukturiertes Beweisverfahren
Urteil 8C_53/2022 vom 05.07.2022 E. 4.2 (Volltext)
Strukturiertes Beweisverfahren für psychische Erkrankungen:
Es ist zwar richtig, dass gemäss BGE 143 V 409 und 418 für die Beurteilung der Invalidität grundsätzlich sämtliche psychischen Erkrankungen einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen sind.
Ausnahmen vom strukturierten Beweisverfahren:
Ein strukturiertes Beweisverfahren bleibt dort entbehrlich, wo im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte eine Arbeitsunfähigkeit in nachvollziehbarer begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 418 E. 7.1 f. mit Hinweisen; Urteil 9C_721/2018 vom 12. März 2019 E. 3.2).
Nicht Diagnose und Schwere Erkrankung sind entscheidend, sondern Auswirkung auf Arbeitsunfähigkeit
Urteil 8C_53/2022 vom 05.07.2022 E. 4.1.2 (Volltext)
So betonte das Bundesgericht in BGE 148 V 49 E. 6.2.2, dass aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht letztlich nicht die Schwere einer Erkrankung entscheidend ist, sondern deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, zumal sie in beruflicher Hinsicht unterschiedliche Folgen zeitigt (BGE 143 V 418 E. 5.2.2).
Feststellung einer Erwerbsunfähigkeit durch das strukturiertes Beweisverfahren
Kreisschreiben über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung (KSIR)
1104: Die Feststellung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erfolgt nach Vorliegen einer ärztlichen Diagnosestellung anhand eines strukturierten Beweisverfahrens. Dieses ist auf alle Arten von Gesundheitsschädigungen anwendbar.
Durch die Rechtsprechung beurteilte Diagnosen
Beurteilte Diagnosen in alphabetischer Reihenfolge
Interne Links > Medizinrecht
- Abhängigkeitssyndrome (Drogen, Alkoholismus, Medikamentenmissbrauch, Cannabis, Kokain, Heroin)
- Adipositas
- Angststörung
- Anpassungsstörung
- Augenprobleme mit Kopfschmerzen und einer Anpassungsstörung
- Borderline-Typus
- Burnout
- Cancer-relatet Fatigue (CrF)
- Chronische Müdigkeit / Chronic Fatigue Syndrome
- Dekonditionierung
- Depressionen
- Diabetes
- Dysthymie
- Epilepsie
- Erwachsenen-ADHS
- Frozen shoulder
- Hals- und Brustwirbelsäule
- HWS-Verletzung
- Intelligenzminderung
- Lebensumstände (mehrfachbelastend) / Abgrenzung psychische Störung
- Long-Covid-19 / Post-Covid-19
- Mehrfachdiagnosen und Komorbiditäten und deren Einfluss auf die Erwerbsunfähigkeit
- Mobbing
- Neurasthenie
- Post-Polio-Syndrom (PPS)
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Somatoforme Schmerzstörung
- Spondylolisthesis LWK5/SWK1 / Angst und depressiven Störung gemischt
- Psychische Störungen im leichten, mittelgradigen und schweren Bereich
- Tetraparese bei normalem Neurostatus
- Z-Kodierungen
Invaliditätsfremde Gründe ohne Einfluss auf die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit
Invaliditätsfremde Gründe rechtfertigen keine Arbeitsunfähigkeit
BGE 127 V 294 vom 05.10.200 (Volltext): Grundsatz psychischer Leiden
Zusammenfassung:
- Eine invalidisierende psychische Störung muss über soziokulturelle Belastungen hinaus eigenständige psychiatrische Befunde aufweisen.
Aus dem Urteil gemäss E. 5a:
Das bedeutet, dass das klinische Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen, welche von den belastenden soziokulturellen Faktoren herrühren, bestehen darf, sondern davon psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen hat, zum Beispiel eine von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde Depression im fachmedizinischen Sinne oder einen damit vergleichbaren psychischen Leidenszustand.
Solche von der soziokulturellen Belastungssituation zu unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sind unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann.
Wo der Gutachter dagegen im Wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden gegeben.
Psychosoziale und soziokulturelle Umstände im Kontext mit dem struturierten Beweisverfahren
Urteil 8C_773/2023 vom 01.05.2024 E. 3.2.2 (Volltext)
Abgrenzung von eigenständig invalidisierenden Gesundheitsschaden:
Praxisgemäss spielt es keine Rolle, dass psychosoziale oder soziokulturelle Umstände bei der Entstehung einer Gesundheitsschädigung einen wichtigen Einfluss gehabt hatten, sofern sich inzwischen ein eigenständiger invalidisierender Gesundheitsschaden entwickelt hat (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1).
Ausklammern von sozialen Belastungen im strukturierten Beweisverfahren:
Im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens nach BGE 141 V 281 sind soziale Belastungen, die direkt negative funktionelle Folgen zeitigen, auszuklammern (vgl. BGE 143 V 409 E. 4.5.2, 141 V 281 E. 4.3.3).
Ganzheitliche Würdigung im Gesamtkontext:
Sie sind aber nicht vorab und losgelöst von der Indikatorenprüfung, sondern in deren Rahmen im Gesamtkontext zu würdigen. Dabei werden die funktionellen Folgen von Gesundheitsschädigungen durchaus auch mit Blick auf psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren abgeschätzt, welche den Wirkungsgrad der Folgen einer Gesundheitsschädigung beeinflussen (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1; Urteil 8C_407/2020 E. 4.1; Urteil 8C_105/2023 vom 10. Juli 2023 E. 5.1 mit weiteren Hinweisen).
Psychosoziale Belastungsfaktoren ohne Erwerbsunfähigkeit
Urteil 8C_438/2013 vom 11.02.2014 E. 5.3 (Volltext)
Kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden: Psychosozialen Belastungsfaktoren wie
- abgebrochene Schulausbildung,
- fehlende Berufsausbildung,
- erschwerte Bedingungen auf dem freien Arbeitsmarkt,
- Migrationshintergrund,
- partnerschaftliche Schwierigkeiten
- und finanzielle Engpässe.
Aggravation als invaliditätsfremder Grund im Speziellen in chronologischer Reihenfolge
Aggravation infolge Inkonsistenzen bei Begutachtung und negativem Medikamentenscreening
Urteil 8C_288/2024 vom 29.10.2024 (Volltext): Aggravation liegt vor
Auffälligkeiten laut SMAB-Gutachter gemäss E. 8.4.2:
- Somatisch inkonsistentes Bewegungsverhalten
- Aggravationstendenzen bei Exploration
- Diskrepanz zwischen Schmerzangaben und Körpersprache
- Widersprüche in Anamnese trotz Übersetzer
- Verdacht auf pseudologische Antworten
- Im Medikamentenscreening: angegebene Medikation nur unzureichend nachgewiesen
Rechtliche Beurteilung gemäss E. 8.5.1:
- Eigenverantwortliche Medikamenteneinnahme erforderlich
- Fehlender Medikamentenspiegel deutet auf mangelnde Compliance und fehlenden Leidensdruck
- Keine Hinweise auf medizinische Gründe für unzureichenden Nachweis der Medikation
Abgrenzung zwischen Verdeutlichung und Aggravation; keine Indikatorenprüfung bei Aggravation
Urteil 8C_48/2024 vom 17.09.2024 E. 7.1 (Volltext)
Grundsatz der Aggravation:
- Es liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor, soweit die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Erscheinung beruht.
Abgrenzung zwischen Verdeutlichung und Aggravation:
- Nicht per se auf Aggravation weist blosses verdeutlichendes Verhalten hin (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 mit Hinweisen). Die Frage, ob ein Verhalten (nur) verdeutlichend ist oder die Grenze zur Aggravation und vergleichbaren leistungshindernden Konstellationen überschreitet, bedarf einer einzelfallbezogenen, sorgfältigen Prüfung auf möglichst breiter Beobachtungsbasis (Urteil 8C_418/2021 vom 16. September 2021 E. 6.1 mit Hinweisen).
Keine Grundlage für eine Invalidenrente:
- Besteht im Einzelfall Klarheit darüber, dass solche Ausschlussgründe die Annahme einer Gesundheitsbeeinträchtigung verbieten, so besteht von vornherein keine Grundlage für eine Invalidenrente, selbst wenn die klassifikatorischen Merkmale einer gesundheitlichen Störung gegeben sein sollten (Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG).
Keine Indikatorenprüfung bei psychischen Leiden:
- Bei Vorliegen einer Aggravation erübrigt sich mithin eine indikatorengeleitete Überprüfung des psychischen Leidens (vgl. auch Urteile 9C_383/2020 vom 22. März 2021 E. 5.4 und 8C_155/2019 vom 11. Juli 2019 E. 5.2.2 mit Hinweisen).
Bereinigung der Auswirkungen bei verselbstständigter Gesundheitsschädigung:
- Soweit die betreffenden Anzeichen hingegen lediglich neben einer ausgewiesenen verselbstständigten Gesundheitsschädigung auftreten, sind deren Auswirkungen im Umfang der Aggravation zu bereinigen (BGE 141 V 281 E. 2.2.2 mit Hinweisen; Urteile 8C_491/2023 vom 25. März 2024 E. 4.3.1 und 8C_418/2021 vom 16. September 2021 E. 6.1, je mit Hinweisen).
Rechtsfrage:
- Ob aus den ärztlichen Feststellungen auf eine Aggravation zu schliessen ist, ist frei überprüfbaren Rechtsfrage (Urteil 8C_653/2023 vom 21. Februar 2024 E. 3.2.2).
Definition und bewusst gesteuerte Aggravation ohne Erwerbsunfähigkeit
Urteil 8C_653/2023 vom 21.02.2024 (Volltext)
Keine versicherte Gesundheitsschädigung bei Aggravation:
2.4. … Zu wiederholen ist, dass nach der Praxis regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vorliegt, soweit die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Erscheinung beruht, die eindeutig über die blosse unbewusste Tendenz zur Schmerzausweitung und -verdeutlichung hinausgeht, ohne dass das betreffende Verhalten auf eine verselbstständigte psychische Erkrankung zurückzuführen wäre (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_371/2019 vom 7. Oktober 2019 E. 5.1.2 mit weiteren Hinweisen).
Gutachterliche Feststellung der Aggravation:
3.1.2. … Der psychiatrische Sachverständige der Medexperts AG habe die vom Versicherten angegebene Schmerzproblematik bei krass widerspüchlichem Verhalten überzeugend als Aggravation und diagnostisch als Entwicklung von körperlichen Symptomen aus psychischen Gründen (ICD-10: F68.0) ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit interpretiert. Wenn, wie vorliegend, eindeutig eine Aggravation gegeben sei, bestehe von vornherein keine Grundlage für eine Invalidenrente wegen einer psychischen Erkrankung, selbst wenn die klassifikatorischen Merkmale einer somatoformen Schmerzstörung gegeben sein sollten (mit Hinweis auf BGE 141 V 281 E. 2.2.2).
Ausschluss krankheitsbedingter Aggravation und Rechtsfolgen:
Dass das aggravatorische Verhalten krankheitsbedingt sein könnte, werde weder von den Gutachtern noch von irgendwelchen behandelnden Ärzten psychiatrischer Fachrichtung in Betracht gezogen. Eine Persönlichkeitsstörung hätten die Sachverständigen der Medexperts AG ausgeschlossen. Insgesamt müsse eine bewusste und gesteuerte Symptomerzeugung (Aggravation) angenommen werden. Damit erübrige sich die Durchführung eines strukturierten Beweisverfahrens (mit Hinweis auf das Urteil 9C_520/2019 vom 22. Oktober 2019 E. 6.1).
Aggravation in medizinischen Gutachten: Kritische Bewertung der Explorandenangaben
Urteil 8C_149/2022 vom 19.01.2023 E. 6.1 (Volltext)
So darf der oder die medizinische Sachverständige die Angaben des Exploranden im Rahmen der klinischen Untersuchung nicht vorbehaltlos als richtig ansehen. Bestandteil einer stichhaltigen Begutachtung bilden unter anderem Angaben zum ärztlich beobachteten Verhalten, Feststellungen über die Konsistenz der gemachten Angaben wie auch Hinweise, welche zur Annahme von Aggravation führen können (statt vieler: Urteile 9C_38/2022 vom 24. Mai 2022 E. 4.3; 8C_390/2017 vom 9. November 2017 E. 4.1 mit Hinweis).
Vertiefte Prüfung des funktionellen Schweregrades im Kontext der Aggravation
Urteil 8C_2/2022 vom 04.07.2022 (Volltext)
Aggravation und versicherte Gesundheitsschädigung:
6.1. Das Vorliegen von Aggravation führt rechtsprechungsgemäss nicht automatisch zur Verneinung jeglicher versicherten Gesundheitsschädigung, sondern nur insoweit,
- als die Leistungseinschränkung auf der Aggravation beruht (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 mit Hinweis)
- oder als deren Folge nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann (vgl. Urteil 9C_659/2017 E. 4.4 mit Hinweis u.a. auf BGE 138 V 218 E. 6).
In BGE 143 V 418 E. 7.1 wird betont, dass Hinweise auf Inkonsistenzen, Aggravation oder Simulation nicht in jedem Fall einen Ausschlussgrund bilden, aber jedenfalls nach einer vertiefenden Prüfung des funktionellen Schweregrades (des ärztlich festgestellten psychischen Leidens) rufen.
Auswirkungen von Aggravation und Inkonsistenzen:
6. 4. Es kann offen bleiben, ob von einem Ausschlussgrund im Sinne von BGE 141 V 281 E. 2.2.1 auszugehen ist. So oder so führen die von den Gutachtern einhellig berichtete Aggravation und die gezeigten Inkonsistenzen demnach zum Ergebnis, dass ein erhebliches Krankheitsgeschehen nicht mehr mit ausreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden konnte.
Kriterien der Aggravation
Urteil I 578/04 vom 28.12.2004 E. 2.1 (Volltext)
Beruht die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Konstellation, liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor.
Eine solche Ausgangslage ist etwa gegeben, wenn:
- eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten Schmerzen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht;
- intensive Schmerzen angegeben werden, deren Charakterisierung jedoch vage bleibt;
- keine medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch genommen wird;
- demonstrativ vorgetragene Klagen auf den Sachverständigen unglaubwürdig wirken;
- schwere Einschränkungen im Alltag behauptet werden, das psychosoziale Umfeld jedoch weitgehend intakt ist.
Wechselwirkung von invaliditätsfremden Gründen und Gesundheitsschäden
Wechselwirkung in der Praxis mit einer resultierenden Arbeitsunfähigkeit von 100 %
Urteil 8C_105/2023 vom 10.07.2023 (Volltext)
E. 5.1: Einfluss psychosozialer und soziokultureller Faktoren:
- Psychosoziale/soziokulturelle Umstände sind irrelevant, wenn ein eigenständiger invalidisierender Gesundheitsschaden vorliegt.
- Soziale Belastungen mit direkten negativen funktionellen Folgen werden im Beweisverfahren ausgeklammert.
- Diese Faktoren sind im Gesamtkontext der Indikatorenprüfung zu würdigen.
E. 5.2.1: Gutachterliche Feststellungen von Dr. med. C.:
- Diagnosen: Chronische Depression (schwergradig), Agoraphobie mit Panikstörung, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.
- Krankheiten beeinflussen sich gegenseitig ungünstig und verstärken negative Auswirkungen.
- Keine direkten Auswirkungen psychosozialer Faktoren auf die Leistungsfähigkeit erkennbar.
- 100%ige Arbeitsunfähigkeit seit 3. Oktober 2017 in angestammter und angepasster Tätigkeit.
E. 5.2.2: Rechtliche Würdigung:
- Entwicklung eines eigenständigen mittelschweren bis schweren invalidisierenden psychischen Gesundheitsschadens.
- Vorinstanzliche Herabstufung des Schweregrades unter Verweis auf psychosoziale Faktoren wird abgelehnt.
- Gericht hat durch eigenständige medizinische Einschätzung die Grenzen der Rechtskontrolle überschritten.
E. 5.2.3: Schlussfolgerung:
- Gutachten bestätigt rechtlich relevante vollständige Arbeitsunfähigkeit des Versicherten seit 3. Oktober 2017.
Eigenständige Gesundheitsschäden: Abgrenzung von psychischer Belastung und Invalidität
Urteil 9C_93/2015 vom 29.09.2015 E. 6.2.1 (Volltext)
Wie die versicherte Person zu Recht ausführt, können zwar schwierige Lebensumstände, wie sie im Fall der Versicherten zweifellos vorliegen (namentlich die gegen ihren Willen erfolgte Emigration in die Schweiz sowie die arrangierte, unglückliche und schwierige Ehe), geeignet sein, ein depressives Zustandsbild zu bewirken und zu unterhalten. Soweit die psychische Störung wieder verschwindet, wenn die Belastungsfaktoren wegfallen, fehlt es an einem verselbständigten Gesundheitsschaden.
Hat sich aber ein eigenständiger, invalidisierender Gesundheitsschaden entwickelt, spielt keine Rolle mehr, dass psycho-soziale oder soziokulturelle Umstände bei der Entstehung einer Gesundheitsschädigung eine wichtige Rolle spielten.
Leitsatz zur massgebenden Ursache für die Arbeitsunfähigkeit
Urteil 9C_140/2014 vom 07.01.2015 E. 3.3 (Volltext)
Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bei psychischen Störungen:
Die massgebende Ursache für Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG bestimmt sich mitunter auch nach dem Leitsatz,
- dass eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert umso ausgeprägter vorhanden sein muss, je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen.
Chronifizierung und Erwerbsunfähigkeit:
So kann eine depressive Symptomatik chronifiziert, damit durchaus verselbständigt sein und dennoch im Rahmen des gesamten Beschwerdebildes nicht genug ins Gewicht fallen, als dass auf eine längerdauernde Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 f. ATSG) geschlossen werden dürfte.
Diesfalls stellt sich das Problem der gutachtlichen Abgrenzung und Quantifizierung eigenständiger Beiträge der sozialen Faktoren nicht.
Wechselwirkung zwischen psychischen Störungen und sozialen Faktoren:
Das gilt auch im umgekehrten Fall, wenn eine deutlich ausgeprägte psychische Störung "konkurrierende" soziale Faktoren in den Hintergrund drängt. Diese sind alsdann so eng mit der Gesundheitsschädigung und ihren funktionellen Auswirkungen verbunden, dass es sich rechtfertigt, den gesamten Ursachenkomplex der Folgenabschätzung zugrunde zu legen: In diesem Sinne können sich soziale Umstände - mittelbar - invaliditätsbegründend auswirken, indem sie eine (verselbständigte) Gesundheitsschädigung aufrechterhalten oder ihre (unabhängig von den invaliditätsfremden Elementen bestehenden) Folgen verschlimmern.
In diesen Konstellationen tragen die als solche nicht versicherten sozialen Faktoren zum Umfang der verselbständigten Gesundheitsschädigung bei.
Depressive Störung ohne invalidisierenden Gesundheitsschaden
Urteil 8C_302/2011 vom 20.09.2011 E. 2.5.2 (Volltext)
Denn zur Begründung der depressiven Störung gab er an,
- der Versicherte könne kaum akzeptieren, seine frühere Leistungsfähigkeit verloren zu haben,
- in wirtschaftlicher Bedrängnis zu sein
- und keine Zukunftsperspektiven zu haben.
- Er fühle sich minderwertig und sein Selbstwertgefühl sei vermindert.
- Zudem sei sich der Versicherte bewusst, dass er beruflich kaum mehr Möglichkeiten habe
- und dass die Zukunft in finanzieller Hinsicht schwierig sei.
- Er leide unter dem Verlust seiner früheren Leistungsfähigkeit.
All dies trage zur Chronifizierung bei und es sei kaum damit zu rechnen, dass sich die depressive Störung in den nächsten Jahren verbessere. Hierbei handelt es sich um ausgeprägte psychosoziale Faktoren, die das Beschwerdebild bestimmen.
Aus dem Gutachten ist ersichtlich, dass sowohl die depressive Störung selber als auch deren Chronifizierung durch diese Faktoren geprägt sind. Von einem invalidisierenden psychischen Gesundheitsschadens kann unter diesen Umständen nicht gesprochen werden.