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Erwerbsunfähigkeit

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Gesetzliche Bestimmung

Vorgehen bei der Beurteilung  der Erwerbsunfähigkeit

Durch die Rechtsprechung beurteilte Diagnosen

Invaliditätsfremde Gründe ohne Einfluss auf die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit

Aggravation als invaliditätsfremder Grund im Speziellen in chronologischer Reihenfolge

Wechselwirkung von invaliditätsfremden Gründen und Gesundheitsschäden

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Gesetzliche Bestimmung

Erwerbsunfähigkeit

Art. 7 ATSG (KSIR)

 

1 Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt.

 

2 Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.

Vorgehen bei der Beurteilung  der Erwerbsunfähigkeit

Sämtliche Leiden sind zu prüfen, jedoch entbehrlich bei begründeter Arbeitsfähigkeit

Urteil 8C_53/2022 vom 05.07.2022 E. 4.2 (Volltext)

 

Es ist zwar richtig, dass gemäss BGE 143 V 409 und 418 für die Beurteilung der Invalidität grundsätzlich sämtliche psychischen Erkrankungen einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen sind. 

 

Ein strukturiertes Beweisverfahren bleibt dort entbehrlich, wo im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte eine Arbeitsunfähigkeit in nachvollziehbarer begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 418 E. 7.1 f. mit Hinweisen; Urteil 9C_721/2018 vom 12. März 2019 E. 3.2).

Nicht Diagnose und Schwere Erkrankung sind entscheidend, sondern Auswirkung auf Arbeitsunfähigkeit

Urteil 8C_53/2022 vom 05.07.2022 E. 4.1.2 (Volltext)

 

So betonte das Bundesgericht in BGE 148 V 49 E. 6.2.2, dass aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht letztlich nicht die Schwere einer Erkrankung entscheidend ist, sondern deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, zumal sie in beruflicher Hinsicht unterschiedliche Folgen zeitigt (BGE 143 V 418 E. 5.2.2).

Feststellung einer Erwerbsunfähigkeit durch das strukturiertes Beweisverfahren

Kreisschreiben über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung (KSIR)

 

1104: Die Feststellung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erfolgt nach Vorliegen einer ärztlichen Diagnosestellung anhand eines strukturierten Beweisverfahrens. Dieses ist auf alle Arten von Gesundheitsschädigungen anwendbar.

Durch die Rechtsprechung beurteilte Diagnosen

Invaliditätsfremde Gründe ohne Einfluss auf die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit

Invaliditätsfremde Gründe rechtfertigen keine Arbeitsunfähigkeit

BGE 127 V 294 vom 05.10.2001 E. 5a (Volltext): Grundsatz

 

Das bedeutet,

  • dass das klinische Beschwerdebild nicht einzig in Beeinträchtigungen, welche von den belastenden soziokulturellen Faktoren herrühren, bestehen darf,
  • sondern davon psychiatrisch zu unterscheidende Befunde zu umfassen hat,

zum Beispiel eine von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde Depression im fachmedizinischen Sinne oder einen damit vergleichbaren psychischen Leidenszustand.

 

Solche von der soziokulturellen Belastungssituation zu unterscheidende und in diesem Sinne verselbstständigte psychische Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sind unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann.

 

Wo der Gutachter dagegen im Wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden gegeben.

Einfluss des strukturierten Beweisverfahrens

Urteil 8C_616/2015 vom 20.05.2016 E. 3.2 (Volltext)

 

Invaliditätsfremde psychosoziale Faktoren sind bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auch nach der geänderten Rechtsprechung des strukturierten Beweisverfahrens weiterhin zu berücksichtigen.

Psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren als invaliditätsfremde Gründe

Urteil 9C468/2021 vom 13.12.2021 E. 2.2.2 (Volltext)

 

Wo der Gutachter dagegen im Wesentlichen nur Befunde erhebt, welche in den psychosozialen und soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung finden, gleichsam in ihnen aufgehen, ist kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden gegeben (BGE 127 V 294 E. 5a mit Hinweisen).

Psychosoziale Belastungsfaktoren ohne Erwerbsunfähigkeit

Urteil 8C_438/2013 vom 11.02.2014 E. 5.3 (Volltext)

 

Kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden: Psychosozialen Belastungsfaktoren wie

  • abgebrochene Schulausbildung,
  • fehlende Berufsausbildung,
  • erschwerte Bedingungen auf dem freien Arbeitsmarkt,
  • Migrationshintergrund,
  • partnerschaftliche Schwierigkeiten
  • und finanzielle Engpässe.

Aggravation als invaliditätsfremder Grund im Speziellen in chronologischer Reihenfolge

Definition und bewusst gesteuerte Aggravation ohne Erwerbsunfähigkeit

Urteil 8C_653/2023 vom 21.02.2024 (Volltext)

 

2.4. … Zu wiederholen ist, dass nach der Praxis regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vorliegt, soweit die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Erscheinung beruht, die eindeutig über die blosse unbewusste Tendenz zur Schmerzausweitung und -verdeutlichung hinausgeht, ohne dass das betreffende Verhalten auf eine verselbstständigte psychische Erkrankung zurückzuführen wäre (BGE 141 V 281 E. 2.2.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_371/2019 vom 7. Oktober 2019 E. 5.1.2 mit weiteren Hinweisen). 

 

3.1.2. … Der psychiatrische Sachverständige der Medexperts AG habe die vom Versicherten angegebene Schmerzproblematik bei krass widerspüchlichem Verhalten überzeugend als Aggravation und diagnostisch als Entwicklung von körperlichen Symptomen aus psychischen Gründen (ICD-10: F68.0) ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit interpretiert. Wenn, wie vorliegend, eindeutig eine Aggravation gegeben sei, bestehe von vornherein keine Grundlage für eine Invalidenrente wegen einer psychischen Erkrankung, selbst wenn die klassifikatorischen Merkmale einer somatoformen Schmerzstörung gegeben sein sollten (mit Hinweis auf BGE 141 V 281 E. 2.2.2). Dass das aggravatorische Verhalten krankheitsbedingt sein könnte, werde weder von den Gutachtern noch von irgendwelchen behandelnden Ärzten psychiatrischer Fachrichtung in Betracht gezogen. Eine Persönlichkeitsstörung hätten die Sachverständigen der Medexperts AG ausgeschlossen. Insgesamt müsse eine bewusste und gesteuerte Symptomerzeugung (Aggravation) angenommen werden. Damit erübrige sich die Durchführung eines strukturierten Beweisverfahrens (mit Hinweis auf das Urteil 9C_520/2019 vom 22. Oktober 2019 E. 6.1).  

Aggravierendes Verhalten ohne Krankheitswert

Urteil 8C_553/2021 vom 13.04.2023 E. 6.1 (Volltext)

 

Eine Aggravation zeichnet sich gemäss gängiger Umschreibung aus durch eine Übertreibung oder Ausweitung von Beschwerden, indem tatsächlich vorhandene Symptome zur Erreichung eines Ziels (im hier interessierenden Kontext die Zusprechung einer Rente) verstärkt dargeboten werden.

 

Rechtsprechungsgemäss und aus Sicht der massgeblichen Anspruchsgrundlagen (vgl. v.a. Art. 6 und 7 Abs. 2 ATSG) zwingend gilt, dass Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die nach ärztlicher Einschätzung allein durch Aggravation von psychischen oder körperlichen Beschwerden verursacht sind, unberücksichtigt zu bleiben haben. Denn aggravierendes Verhalten als solches weist keinen Krankheitswert auf und zählt damit zu den invaliditätsfremden Faktoren.

 

Im vorliegenden Fall gemäss E. 6.3.:

Begutachtungsbestandteile, die zur Annahme von Aggravation führen können

Urteil 8C_149/2022 vom 19.01.2023 E. 6.1 (Volltext)

 

So darf der oder die medizinische Sachverständige die Angaben des Exploranden im Rahmen der klinischen Untersuchung nicht vorbehaltlos als richtig ansehen. Bestandteil einer stichhaltigen Begutachtung bilden unter anderem Angaben zum ärztlich beobachteten Verhalten, Feststellungen über die Konsistenz der gemachten Angaben wie auch Hinweise, welche zur Annahme von Aggravation führen können (statt vieler: Urteile 9C_38/2022 vom 24. Mai 2022 E. 4.3; 8C_390/2017 vom 9. November 2017 E. 4.1 mit Hinweis).

Vertiefte Prüfung des funktionellen Schweregrades im Kontext der Aggravation

Urteil 8C_2/2022 vom 04.07.2022 (Volltext)

 

6.1. Das Vorliegen von Aggravation führt rechtsprechungsgemäss nicht automatisch zur Verneinung jeglicher versicherten Gesundheitsschädigung, sondern nur insoweit,

In BGE 143 V 418 E. 7.1 wird betont, dass Hinweise auf Inkonsistenzen, Aggravation oder Simulation nicht in jedem Fall einen Ausschlussgrund bilden, aber jedenfalls nach einer vertiefenden Prüfung des funktionellen Schweregrades (des ärztlich festgestellten psychischen Leidens) rufen.  

 

6. 4. Es kann offen bleiben, ob von einem Ausschlussgrund im Sinne von BGE 141 V 281 E. 2.2.1 auszugehen ist. So oder so führen die von den Gutachtern einhellig berichtete Aggravation und die gezeigten Inkonsistenzen demnach zum Ergebnis, dass ein erhebliches Krankheitsgeschehen nicht mehr mit ausreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden konnte.

Nicht per se auf Aggravation weist blosses verdeutlichendes Verhalten hin

Urteil 8C_438/2015 vom 13.10.2015 (Volltext)

 

Nicht per se auf Aggravation weist blosses verdeutlichendes Verhalten hin. Besteht im Einzelfall Klarheit darüber, dass nach plausibler ärztlicher Beurteilung die Anhaltspunkte auf eine Aggravation eindeutig überwiegen und die Grenzen eines bloss verdeutlichenden Verhaltens klar überschritten sind, ohne dass das aggravatorische Verhalten auf eine verselbständigte, krankheitswertige psychische Störung zurückzuführen wäre, fällt eine versicherte Gesundheitsschädigung ausser Betracht und ein Rentenanspruch ist ausgeschlossen.

Kriterien der Aggravation

Urteil I 578/04 vom 28.12.2004 E. 2.1 (Volltext)

 

Beruht die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Konstellation, liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor.

 

Eine solche Ausgangslage ist etwa gegeben, wenn:

  • eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten Schmerzen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht;
  • intensive Schmerzen angegeben werden, deren Charakterisierung jedoch vage bleibt;
  • keine medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch genommen wird;
  • demonstrativ vorgetragene Klagen auf den Sachverständigen unglaubwürdig wirken;
  • schwere Einschränkungen im Alltag behauptet werden, das psychosoziale Umfeld jedoch weitgehend intakt ist.

Wechselwirkung von invaliditätsfremden Gründen und Gesundheitsschäden

Wechselwirkung in der Praxis mit einer resultierenden Arbeitsunfähigkeit von 100 %

Urteil 8C_105/2023 vom 10.07.2023 (Volltext): Unzulässige juristische Parallelprüfung

 

5.1. Praxisgemäss spielt es keine Rolle, dass psychosoziale oder soziokulturelle Umstände bei der Entstehung einer Gesundheitsschädigung einen wichtigen Einfluss gehabt hatten, sofern sich inzwischen ein eigenständiger invalidisierender Gesundheitsschaden entwickelt hat (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1; Urteile 9C_307/2017 vom 11. Januar 2018 E. 5.3.2 und 9C_93/2015 vom 29. September 2015 E. 6.2.1 mit Hinweis).

 

Im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens nach BGE 141 V 281 sind soziale Belastungen, die direkt negative funktionelle Folgen zeitigen, auszuklammern (vgl. BGE 143 V 409 E. 4.5.2 mit Hinweisen, 141 V 281 E. 4.3.3).

 

Sie sind aber nicht vorab und losgelöst von der Indikatorenprüfung, sondern in deren Rahmen im Gesamtkontext zu würdigen. Dabei werden die funktionellen Folgen von Gesundheitsschädigungen durchaus auch mit Blick auf psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren abgeschätzt, welche den Wirkungsgrad der Folgen einer Gesundheitsschädigung beeinflussen (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1; 8C_407/2020 E. 4.1).

 

5.2.1. Dem Versicherten ist beizupflichten, dass Dr. med. C. im Gutachten vom 12. Dezember 2020 folgende Diagnosen stellte:

  • Chronische Depression, gegenwärtig schwergradig (ICD-10 F33.2);
  • Agoraphobie mit Panikstörung (ICD-10 F40.01);
  • chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F45.41).

Richtig ist auch, dass Dr. med. C. feststellte, die Krankheiten Depression, Angst und chronischer Schmerz beeinflussten sich gegenseitig ungünstig und verstärkten sich in ihren negativen Auswirkungen. Das Gesamtpaket habe einen höheren Krankheitswert als die Summe der Einzelstörungen. Direkte Auswirkungen psychosozialer Faktoren auf die Leistungsfähigkeit seien für ihn nicht erkennbar. Seit 3. Oktober 2017 bestehe eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit in der angestammten und in einer angepassten Tätigkeit.  

 

Ergänzend ist anzufügen (vgl. Urteil 8C_737/2022 vom 10. März 2023 E. 7.2.2), dass Dr. med. C. festhielt, beim Beschwerdeführer lägen psychische Erkrankungen mit Eigendynamik vor, auch wenn diese von psychosozialen Faktoren ausgelöst worden seien und weiterhin moduliert würden. Bezogen auf die Beeinträchtigungen im Alltag und Beziehungen durch die festgestellten Störungen bestehe insgesamt eine mittelschwere bis schwere psychische Gesundheitsschädigung. 

 

5.2.2. Aufgrund dieser Feststellungen des Dr. med. C. ist davon auszugehen, dass sich beim Beschwerdeführer ein eigenständiger mittelschwerer bis schwerer und invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden entwickelt hat. Es bestehen Interferenzen durch psychische Komorbiditäten. Laut Dr. med. C. liegen keine direkten Auswirkungen psychosozialer Faktoren auf die Leistungsfähigkeit vor. In diesem Lichte kann der Vorinstanz nicht gefolgt werden, wenn sie den Schweregrad des Gesundheitsschadens entgegen der gutachterlichen Auffassung unter Hinweis auf die bestehenden psychosozialen Faktoren als gering herabstufte.  

 

Festzuhalten ist vielmehr, dass der Gutachter Dr. med. C. seiner Aufgabe unter Berücksichtigung der durch BGE 141 V 281 normierten Beweisthemen überzeugend nachgekommen ist (vgl. BGE 145 V 361 E. 4.3). Deshalb ist seiner Folgenabschätzung aus rechtlichen Gründen - insbesondere auch unter dem Gesichtswinkel der Konsistenz - zu folgen. ...

 

Indem das kantonale Gericht die medizinischen Angaben nicht einfach nur auf die normativen Rahmenbedingungen geprüft, sondern stattdessen eine eigenständige medizinische Einschätzung vorgenommen hat, hat es die Grenzen der gebotenen Rechtskontrolle überschritten bzw. eine unzulässige juristische Parallelprüfung vorgenommen (BGE 141 V 281 E. 5.2.2.3). Aufgrund dieser Bundesrechtsverletzung kann auf die im angefochtenen Urteil festgestellte uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit nicht abgestellt werden. 

 

5.2.3. Zusammenfassend ist aufgrund des Gutachtens des Dr. med. C. vom 12. Dezember 2020 der Beweis einer rechtlich relevanten vollständigen Arbeitsunfähigkeit des Versicherten seit 3. Oktober 2017 erbracht (BGE 143 V 409 E. 4.5.2 S. 416 mit Hinweis auf BGE 141 V 281 E. 3.7.2).

Grundsatz der Wechselwirkung

Urteil 9C_93/2015 vom 29.09.2015 E. 6.2.1 (Volltext)

 

Wie die versicherte Person zu Recht ausführt, können zwar schwierige Lebensumstände, wie sie im Fall der Versicherten zweifellos vorliegen (namentlich die gegen ihren Willen erfolgte Emigration in die Schweiz sowie die arrangierte, unglückliche und schwierige Ehe), geeignet sein, ein depressives Zustandsbild zu bewirken und zu unterhalten. Soweit die psychische Störung wieder verschwindet, wenn die Belastungsfaktoren wegfallen, fehlt es an einem verselbständigten Gesundheitsschaden.

 

Hat sich aber ein eigenständiger, invalidisierender Gesundheitsschaden entwickelt, spielt keine Rolle mehr, dass psycho-soziale oder soziokulturelle Umstände bei der Entstehung einer Gesundheitsschädigung eine wichtige Rolle spielten.

Leitsatz zur massgebenden Ursache für die Arbeitsunfähigkeit

Urteil 9C_140/2014 vom 07.01.2015 E. 3.3 (Volltext)

 

Die massgebende Ursache für Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG bestimmt sich mitunter auch nach dem Leitsatz,

  • dass eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert umso ausgeprägter vorhanden sein muss, je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund treten und das Beschwerdebild mitbestimmen.

So kann eine depressive Symptomatik chronifiziert, damit durchaus verselbständigt sein und dennoch im Rahmen des gesamten Beschwerdebildes nicht genug ins Gewicht fallen, als dass auf eine längerdauernde Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 f. ATSG) geschlossen werden dürfte.

 

Diesfalls stellt sich das Problem der gutachtlichen Abgrenzung und Quantifizierung eigenständiger Beiträge der sozialen Faktoren nicht.

 

Das gilt auch im umgekehrten Fall, wenn eine deutlich ausgeprägte psychische Störung "konkurrierende" soziale Faktoren in den Hintergrund drängt. Diese sind alsdann so eng mit der Gesundheitsschädigung und ihren funktionellen Auswirkungen verbunden, dass es sich rechtfertigt, den gesamten Ursachenkomplex der Folgenabschätzung zugrunde zu legen: In diesem Sinne können sich soziale Umstände - mittelbar - invaliditätsbegründend auswirken, indem sie eine (verselbständigte) Gesundheitsschädigung aufrechterhalten oder ihre (unabhängig von den invaliditätsfremden Elementen bestehenden) Folgen verschlimmern.

 

In diesen Konstellationen tragen die als solche nicht versicherten sozialen Faktoren zum Umfang der verselbständigten Gesundheitsschädigung bei.

Depressive Störung ohne invalidisierenden Gesundheitsschaden

Urteil 8C_302/2011 vom 20.09.2011 E. 2.5.2 (Volltext)

 

Denn zur Begründung der depressiven Störung gab er an,

  • der Versicherte könne kaum akzeptieren, seine frühere Leistungsfähigkeit verloren zu haben,
  • in wirtschaftlicher Bedrängnis zu sein
  • und keine Zukunftsperspektiven zu haben.
  • Er fühle sich minderwertig und sein Selbstwertgefühl sei vermindert.
  • Zudem sei sich der Versicherte bewusst, dass er beruflich kaum mehr Möglichkeiten habe
  • und dass die Zukunft in finanzieller Hinsicht schwierig sei.
  • Er leide unter dem Verlust seiner früheren Leistungsfähigkeit.

All dies trage zur Chronifizierung bei und es sei kaum damit zu rechnen, dass sich die depressive Störung in den nächsten Jahren verbessere. Hierbei handelt es sich um ausgeprägte psychosoziale Faktoren, die das Beschwerdebild bestimmen.

 

Aus dem Gutachten ist ersichtlich, dass sowohl die depressive Störung selber als auch deren Chronifizierung durch diese Faktoren geprägt sind. Von einem invalidisierenden psychischen Gesundheitsschadens kann unter diesen Umständen nicht gesprochen werden.